Der Geruch des Todes

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Es ist wohl ein Phänomen der Großstadt, dass Leute kommen und gehen. Man kennt seine Nachbaren womöglich nur vom Sehen. Und, wenn sie „verschwinden“, fällt es nicht weiter auf. Man vermisst sie nicht. Womöglich sind sie in eine andere Stadt umgezogen!?

Andere liegen tot in ihrer Wohnung. Tage, Wochen oder gar Monate vergehen, ehe jemand stutzig wird. Oft quillt der Briefkasten verdächtig über. Oder es sind die Tage nach Feiertagen oder Geburtstagen, an denen auffällt, dass jemand „verschwunden“ ist.

„Meine Tante hat sich zu Weihnachten immer gemeldet“, hört man dann. Andere wundern sich über den ausgebliebenen Anruf zum Geburtstag, der wie eine Tradition fest verankert war. Grund mal nachzuhaken, mal nachzusehen.

Wiederum andere gehen in der Anonymität der Großstadt förmlich unter. Sie sind womöglich älter, gebrechlich und nicht mehr ganz gesund. Sie können die Wohnung nicht mehr oft verlassen.

Oder sie leben isoliert: von der Familie getrennt. Zerstritten mit der Verwandtschaft. Oder Sie sind die letzten aus einem Freundeskreis – die anderen sind lange schon verstorben.

Alles läuft automatisch – nur der Mensch dahinter ist lange tot.

Die Miete für die Wohnung läuft per Dauerauftrag. Die Gebühren für Telefon und Versicherungen werden per Lastschrift eingezogen. Die monatliche Rente kommt automatisch aufs Konto. So ist immer genug Geld da, dass Verbindlichkeiten gedeckt sind.

So fällt es nicht auf, dass eine Wohnung im 3. Stock des Wohnblocks nur noch „von einer Leiche bewohnt“ wird, die auf der Couch langsam verwest.

„Ich dachte: welches Ferkel bringt seinen Müll nicht zur Mülltonne?“

Der Geruch nimmt zu, der typische Leichengeruch entsteht. Es ist ein süßlich-fauliger Geruch mit einer käsigen Note, der im Einzelfall die Augen reizt. Auch im Treppenhaus ist es zunehmend zu riechen. Man muss es riechen – der Geruch ist penetrant. Am Ende stinkt es nahezu unerträglich nach Verwesung und Fäulnis. Leute durchqueren im Laufschritt die Gänge und halten sich ein Taschentuch vor Mund und Nase.

Offenbar assoziieren die wenigsten einen Verwesungsprozess mit dem Gestank im Treppenhaus. „Ich dachte: welches Ferkel bringt seinen Müll nicht raus“, habe ich von einer Anwohnerin gehört.

Oftmals Beschweren sich Mieter bei der Hausverwaltung über den Geruch im Treppenhaus. Oder sie wenden sich ratlos direkt an die Polizei. Die meisten langjährigen Hausmeister und fast jeder Polizist weiß bei dem Geruch unvermittelt: in einer Wohnung liegt eine Leiche.

In einem anderen Haus regte man sich auf, dass der „rücksichtslose Herr Müller“ im vierten Stock seinen Pflichten zur Treppenhausreinigung nicht nachkam. Er wäre schon zweimal in den letzten Monaten an der Reihe gewesen, das Treppenhaus zu wischen. Er habe sich aber nicht blicken lassen.

Betroffen blickten sich die Nachbarn an, dass sie Herrn Müller offenbar Unrecht getan hatten. Denn Herr Müller hatte eine plausible Erklärung, warum er das Treppenhaus wiederholt nicht geputzt hatte: denn er war bereits seit Monaten tot.

Interessanterweise war dies just in einem Gebäude, bei dem ich aufgrund der Windrichtung den Leichengeruch bereits am Parkplatz vernahm.

„Es riecht hier schon seit Wochen so!“

Es verblüfft mich immer wieder: Anwohner berichten regelmäßig, dass es seit Wochen schon so unerträglich riecht. Und, wenn man sich den Zustand der Leiche dann ansieht – und oftmals der Insekten, dann lässt sich der Gestank erahnen.

Vor einigen Jahren besuchte ich häufiger und gern ein bestimmtes Restaurant. Dann wurde dessen Fassade renoviert. Zufällig erblickten die Bauarbeiter durch ein Fenster im ersten Stock eine stark verweste Frauenleiche.

Das Treppenhaus führte direkt an der Küche vorbei in die oberen Stockwerke. Und dort wurden auch Lebensmittel für das Restaurant gelagert. Unvorstellbar, dass unten Leute feiern, Küchenpersonal im Leichengestank das Gemüse aus dem Treppenhaus holte… und keiner hat etwas gemerkt.

Das unbemerkte Verschwinden von Nachbarn und das Leben im Verwesungsgeruch ist im Übrigen kein Phänomen, das auf bestimmte, womöglich sozial prekäre Stadtteile beschränkt ist. Es passiert in Schwabing ebenso, wie in Neuperlach, Bogenhausen und Hasenbergl. Und ich habe es auch in ländlichen Bereichen erlebt.

Es ist wohl ein Phänomen unserer Zeit, dass man weniger sozial integriert ist und seine Nachbarn nicht mehr kennt. So kann man versterben und keinem fällt es auf.

Stefan Hartl

Jahrgang 1979. 2 Kinder. Arzt seit 2006. Facharzt für Anästhesie, Notfallmedizin, Suchtmedizin, Reisemedizin. Freiberufliche Tätigkeit, u.a. als Leichenschauer, seit 2006. Interessen: Literatur, Reisen.

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