Der Todespfleger von Ottobrunn

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In den frühen Morgenstunden des Rosenmontag 2018 wurde ich zu einer Leichenschau in Ottobrunn bei München gerufen. Zunächst schien es sich um einen Routinefall zu handeln: ein hilfsbedürftiger Mann fortgeschrittenen Alters war verstorben. Und er war von einer osteuropäischen Hilfspflegekraft betreut worden.

Die Geschichte wurde so geschildert: die Pflegekraft habe sich um den Herrn gekümmert. Nachts habe sie immer wieder nach ihm gesehen. Doch bei einem Kontrollgang habe der Mann bewusstlos im Bett gelegen. Darum habe der Pfleger selbst noch den Notarzt verständigt. Jede Hilfe kam jedoch zu spät.

Als ich eintraf, befand sich ein Verwandter im Korridor des Hauses. Ein zweiter, jüngerer Mann kam etwas später hinzu: er war eher klein, untersetzt und wirkte ungepflegt. Jener Mann sprach zunächst kein Wort. Sonst hätte ich anhand des starken, osteuropäischen Akzents sofort erkannt: das musste die besagte Pflegekraft sein. So hielt ich ihn aber für einen Neffen des Toten. Dass dieser Mann Pfleger sein könnte, erschien mir angesichts seines Erscheinungsbildes absurd.

Der Verstorbene befand sich im Nebenzimmer. Dort studierte ich zunächst die Krankenunterlagen. Dann führte ich die eigentliche Leichenschau durch.

„Patient tot. Keine Arbeit. Kein Geld. Muss zum Bus.“

Durch die geschlossene Zimmertüre hörte ich ein Streitgespräch zwischen ebenfalls anwesenden Polizeibeamten und dem polnischen Hilfspfleger mit. Der hatte es offenbar sehr eilig und wollte das Haus verlassen.

Immer wieder betonte er in abgewandelter Variation und mit starkem polnischem Akzent: „Patient tot. Keine Arbeit. Kein Geld. Muss zum Bus.“ Die Beamten baten ihn höflichst, er möge bleiben. Immerhin hatte er den Mann bis zu dessen Tod betreut. Somit sollte er am besten Auskunft geben können über dessen letzte Lebensstunden. Doch der Pfleger gab sich wenig einsichtig.

Ich rätselte, ob es am Rosenmontag eine Busverbindung von Ottobrunn nach Polen geben könnte? Noch vor Sonnenaufgang? Das erschien mir ebenfalls absurd.

Außerdem war der Pfleger erst Tage zuvor bei dem Toten eingezogen. Und er sollte doch Monate bleiben! Warum nur hatte er es so eilig von dort zu verschwinden? Welchen Unterschied hätte es für ihn gemacht noch einige Stunden zu bleiben? Wenigstens bis zum Abschluss der Leichenschau? Außerdem überraschte mich die subjektive Kälte und Distanz zum Toten, sowie der fehlende Respekt den Hinterbliebenen gegenüber.

Als Leichenschauer erlebe ich regelmäßig, dass Patienten von ausländischen Pflegekräften versorgt werden. Und gesund sind diese Menschen zumeist freilich nicht. Dann lebt die Pflegekraft im Haushalt des Patienten. Und sie kümmert sich dann ausschließlich um einen Kranken. Dadurch entsteht fast regelhaft eine merkliche Nähe und Vertrautheit.

Ich erlebe Pflegekräfte, die trauern um ihren Patienten, als wären sie tatsächlich verwandt. In diesem Fall schien genau das Gegenteil der Fall gewesen zu sein.

Der untersetzte Mann im schmutzigen T-Shirt war tatsächlich der Hilfspfleger.

Als sich dann noch Auffälligkeiten bei der Leichenschau ergaben, wollte ich mit den Angehörigen sprechen. Ich hatte ein ungutes Bauchgefühl und einen schlimmen Verdacht. Also fragte ich: „Wo ist der Pfleger?“ – Man verwies mich an den untersetzten Mann im schmutzigem T-Shirt, der unmittelbar neben mir stand. Erst jetzt begriff ich, dass dies tatsächlich der Hilfspfleger sein sollte.

Ich teilte den Polizeibeamten das Ergebnis der Leichenschau mit. Weitere Untersuchungen wurden veranlasst, die ebenfalls Auffälligkeiten ergaben. Zuletzt fand man Wertgegenstände des Toten im Reisegepäck des Pflegers. Darin befanden sich außerdem Ampullen mit Insulin, das er dem Toten offenbar in hoher Dosis verabreicht haben könnte. Jener starb offenbar an einer Überdosis Insulin.

Im Folgenden ermittele die Polizei zahlreiche Einsatzorte des Pflegers in ganz Deutschland. Er soll für eine der schlimmsten deutschen Mordserien verantwortlich sein.

Deren Aufklärung hatte in der Rosenmontagsnacht 2018 den Anfang genommen.

Stefan Hartl

Jahrgang 1979. 2 Kinder. Arzt seit 2006. Facharzt für Anästhesie, Notfallmedizin, Suchtmedizin, Reisemedizin. Freiberufliche Tätigkeit, u.a. als Leichenschauer, seit 2006. Interessen: Literatur, Reisen.

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