Schade, dass Mama tot ist

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Bei Familie Huber* gab es eine Tradition: zweimal pro Woche schlief der fünfjährige Sohn beim Vater im elterlichen Schlafzimmer. Und die Mutter nächtigte im Kinderzimmer. Sie wollte etwas Freiraum um zu lesen. Sie nahm sich so etwas Zeit für sich.

Beider Eltern waren Akademiker und selbstständig. Sie bewohnten ein Haus in einem Münchner Randbezirk.

Morgens bereiteten Vater und Sohn gemeinsam das Frühstück. Dann wurde die Mutter geweckt.

Die Mutter lag regungslos im Kinderbett.

Doch eines Tages war alles anders. Das Frühstück stand auf dem Tisch. Musik lief. Der Vater hatte den Sohn für den Kindergarten vorbereitet. Nun sollte die Mutter geweckt werden. Doch sie lag regungslos im Kinderbett. Die Brille lag neben ihr. Sogar der Roman von letzter Nacht war noch aufgeschlagen.

Der Rettungsdienst wurde gerufen. Als die Einsatzkräfte eintrafen, versuchten sie noch, der Frau zu helfen. Doch es war zu spät. Die Reanimationsmaßnahmen wurden eingestellt. Frau Huber war tot.

Ich wurde mit der Leichenschau beauftragt. Auch Polizeibeamte trafen ein. Der Tod der Frau war ja völlig unerwartet gekommen. Ferner wurde ein Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams hinzugezogen. Er war für die psychologische Betreuung der verwaisten Familie zuständig.

Als ich das Haus betrat, saßen Vater und Sohn am Esstisch in der großen Diele. Ich setzte mich zu ihnen. Da ich mir ein Bild machen musste zum gesundheitlichen Zustand der Toten, befragte ich den Vater.

„Es ist schon schade, dass meine Mama jetzt tot ist.“

Der Vater berichtete mir von ihrer Tradition des Bettentauschs. Er berichtete, dass seine Frau keine nennenswerten Vorerkrankungen gehabt habe. Sie habe geraucht. Sie habe Stress gehabt. Aber nein, krank sei sie nicht gewesen.

Der Junge frühstückte währenddessen. Nutellabrot und Kakao. Plötzlich blickte er auf und blickte mir überdies durchdringend in die Augen. „Es ist schon schade, dass meine Mama jetzt tot ist“, sagte er. Ich erwiderte: „Ja, das ist wirklich schade.“

„Muss Papa jetzt auch sterben?“

Die Nerven des Vaters lagen blank. Er war ratlos und völlig überfordert von der Situation. Zum Telefonieren ging er auf die Terrasse. Dann setzte er sich wieder zu uns, an den Kopf des Tisches. Er verschränkte seine Arme, stützte den Kopf darauf und blickte nach unten.

„Papa? Papa?“ sprach der Junge ihn an. Herr Huber reagierte nicht. Was sollte er auch sagen? Er wusste ja selbst nicht weiter.

Der Junge blickte uns an und fragte: „Muss Papa jetzt auch sterben?“

Da schreckte Herr Huber hoch, strich seinem Sohn liebevoll über den Kopf und antwortete: „Nein, keine Angst, ich muss nicht sterben.“

„Magst Du eine Polizeimütze aufsetzen?“

Nun nahmen sich die beiden ebenfalls anwesenden Polizeibeamten des Jungen an. „Magst Du mal eine echt Polizeimütze aufsetzen?“ fragte einer der Polizisten. Die Mine des Jungen erhellte sich. Klar wollte er eine Polizeimütze aufsetzen!

„Hast Du außerdem Lust, unser Polizeiauto anzusehen? Du darfst auch auf dem Fahrersitz sitzen und das Blaulicht einschalten,“ fragte der Beamte.

Nun sprang der Junge auf und ging mit den Polizisten nach draußen. Der Vater bedankte sich, dass die Polizisten seinen Sohn beschäftigten und auf andere Gedanken brachten.

Kurze Zeit später hatte die Leichenschau abgeschlossen und verließ das Anwesen. Ich kam am blau blinkenden Einsatzwagen der Polizisten vorbei. Am Fahrersitz saß der Junge. Auf dem Kopf hatte er die Polizeimütze. Überdies hielt er eine rote Polizeikelle in den Händen.

Erstaunlich, wie Kinder mit solch schlimmen Situationen umgehen, dachte ich mir.

(*) Namen selbstverständlich geändert.

Stefan Hartl

Jahrgang 1979. 2 Kinder. Arzt seit 2006. Facharzt für Anästhesie, Notfallmedizin, Suchtmedizin, Reisemedizin. Freiberufliche Tätigkeit, u.a. als Leichenschauer, seit 2006. Interessen: Literatur, Reisen.

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