Sterilität ohne Lebensmittel

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Als Hubert Aigner starb war er 82 Jahre alt. Zuletzt lebte er allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Denn seine Frau Anneliese hatte er bereits zwei Jahre zuvor zu Grabe getragen. Nachbarn beschrieben ihn als rüstigen Rentner, der zurückgezogen lebte. Nachdem sich Herr Aigner länger nicht blicken ließ, wurde nach dem Rechten gesehen. Immerhin gab es einen Betreuer, der mit sämtlichen Vollmachten ausgestattet war.

Herr Aigner litt unter keinen schwerwiegenden Erkrankungen

Ich führte die Leichenschau durch. Im Grunde bestätigte sich hierbei die Einschätzung des Betreuers und der Nachbarn: Herr Aigner litt unter keinen schwerwiegenden Erkrankungen. „Wir hatten den Verdacht, dass er eine Demenz entwickelt“, sagte der Betreuer. Herr Aigner sei nur widerwillig zum Arzt gegangen. Deshalb sei auch eine große, infizierte Wunde an der Brust nie behandelt worden. Auch Medikamente nahm er nicht ein.

Angesehen von der Toilette war die Wohnung geradezu steril

Ich blickte mich in der Wohnung um. Die Wohnung wirkte sauber, geradezu steril. Nur die Toilette schien dringend einer Reinigung zu bedürfen.

Der Kühlschrank war leer und geradezu auffallend sauber. Immerhin: er war als einziges in Betrieb. Die Kaffeemaschine war ausgesteckt. Auch das Küchenradio. Es gab keinerlei Vorräte in der Wohnung. Weder Milch, noch Mehl, noch Eier. Keine Gewürze. Keine Konserven oder Nudeln. Kaffee oder Tee – Fehlanzeige. Es gab nicht einmal Chips oder Kekse für einen Fernsehabend. Und was hatte Herr Aigner getrunken? Weder Saft oder Mineralwasser, noch Alkohol. Die Spülmaschine war so sauber, als wäre sie gerade geliefert worden.

Wovon lebte der ältere Herr?

Was hat Herr Aigner gegessen? Wovon hat er gelebt? Zwar war er auffallend schlank und knochig – doch gänzlich ohne Lebensmittel? War er womöglich verhungert?

„Er hat jeden Tag bei mir geläutet und sich zwei Scheiben Brot ausgeliehen“, berichtete eine Nachbarin. „Nach dem Tod seiner Frau ist er nicht mehr viel raus gegangen.“ Womöglich habe er mit dem Leben abgeschlossen gehabt.

Es wirkt wie ein trauriger Lebensabend: Herr Aigner lebte einsam und zurückgezogen. Da er nicht mehr vor die Tür ging ernährte er sich von zwei Scheiben Brot und Leitungswasser. Denn andere Lebensmittel suchte man in der sterilen Wohnung vergebens.

Stefan Hartl

Jahrgang 1979. 2 Kinder. Arzt seit 2006. Facharzt für Anästhesie, Notfallmedizin, Suchtmedizin, Reisemedizin. Freiberufliche Tätigkeit, u.a. als Leichenschauer, seit 2006. Interessen: Literatur, Reisen.

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