Unter der Modelleisenbahn

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Herbert Lehmann wohnte in einer kleinen Wohnung mit rund 40 Quadratmetern. Er war Bahnmitarbeiter gewesen. Seine Pensionierung war ihm nicht leicht gefallen. Denn er war Eisenbahner mit Leib und Seele.

Obgleich Herbert nicht mehr mit Zügen durch Bayern fahren dufte, seine Leidenschaft für Modelleisenbahnen konnte ihm keiner nehmen. So besuchte er Ausstellungen und Messen. Und er erweiterte stetig seine Sammlung.

Herberts Leidenschaft nahm pathologische Züge an.

Aber Herberts Leidenschaft für Modellbau geriet irgendwann außer Kontrolle. Sie nahm indes pathologische Züge an. Herbert kaufte was er nur fand. Und seine Sammlung wuchs und wuchs.

Herbert lebte allein und zurückgezogen. Weil Nachbarn ihn tagelang nicht mehr sahen, öffneten die Behörden seine Wohnung. Herbert lag tot in seinem Bett. Und ich wurde zur Leichenschau gerufen.

Modelleisenbahnen, wohin man blickte.

Was ich in der Wohnung vorfand, das war schier unfassbar: Modelleisenbahnen, wohin man blickte. Eine Bahnstrecke war an der Wand befestigt und führte von der Eingangstür quer durch den Raum. Dort befand sich auch ein zentraler Bahnhof. In Schaukästen und auf Regalen hatte Herbert die wertvollsten Stücke ausgestellt.

Doch als Herberts Sammelleidenschaft außer Kontrolle geriet, reichten die Regale, Schränke und Vitrinen schnell nicht mehr aus.

Die Sigel der Hersteller waren noch unbeschädigt.

So waren Kartons mit Zügen, Gleisen und sonstigem Zubehör überall abgestellt. Herbert packte sie überhaupt nicht mehr aus. Die Sigel des Herstellers waren noch unbeschädigt. Er kaufte Modelle und stellte sie einfach ab. Dort, wo er Platz fand.

Das Ergebnis jahrelangen Sammelns offenbarte sich: nachdem jeder freie Platz mit Modelleisenbahnen belegt war, türmten sich die Kartons teilweise bis zur Zimmerdecke. Die Kartons waren teils wie Brennholz entlang der Wände gestapelt. Für Herbert blieb nur ein schmaler Trampelpfad zwischen Bett, Fernseher, Toilette und Wohnungstür. Der Rest war mit Modelleisenbahnen belegt. Sogar die Küchenzeile war nicht mehr nutzbar.

Blickfeld zum Fernseher nur unter steinerner Eisenbahnbrücke

Interessant war, dass auf ersten Blick der Fernseher zwar genutzt wurde, das Bild aber überhaupt nicht einsehbar war. Fernsehen war nur in einer Position möglich. Solange Herbert im Bett seinen Oberkörper auf seinem Kissen positionierte, war der Blick zum Fernseher frei. Das Sichtfeld war dann gesäumt von Kartons. Und er musste unter einer steinernen Eisenbahnbrücke durchgucken.

Herbert war Eisenbahner mit Leib und Seele. Doch seine Leidenschaft hat offenbar die Kontrolle übernommen. Ein normales Leben schien in dieser Wohnung nahezu unmöglich.

Stefan Hartl

Jahrgang 1979. 2 Kinder. Arzt seit 2006. Facharzt für Anästhesie, Notfallmedizin, Suchtmedizin, Reisemedizin. Freiberufliche Tätigkeit, u.a. als Leichenschauer, seit 2006. Interessen: Literatur, Reisen.

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