Von Hauskatze gefressen

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Noch vor Betreten der Wohnung fielen mir die Umstehenden mit verstörten Mienen auf. „Es ist kein schönes Bild“, raunte mir jemand zu. Doch ich nahm mir die Warnung zunächst nicht zu Herzen. Ich dachte, als Leichenschauer hätte ich schon ziemlich alles gesehen. Also ging ich weiter.

Wo war das Gesicht?

Im Flur lag eine tote Person: langes Haare, weibliche Körperform, gute Bekleidung, Schmuck. Nur wo war das Gesicht?

Die tote Person lag auf dem Rücken. Es soll sich um Frau Elisabeth Wimmer* gehandelt haben. Eindeutig zu identifizieren war die Person nicht mehr. Dort, wo das Gesicht war, befand sich nun eine Wunde. Und jene reichte vom Haaransatz am Scheitel bis zum Kragen der Bluse. Schnell war klar, wodurch diese immense Wunde entstanden sein musste.

Frau Wimmer war Halterin einer Hauskatze. Und nachdem Frau Wimmer verstorben war vergingen mehrere Tage bis jemand in die Wohnung kam. So war das Trockenfutter aufgebraucht, die Wasserschüssel leer. Ebenso war das Katzenklo übervoll. Exkremente lagen in der gesamten Wohnung verstreut.

Von der Katze angefressen

Den Durst stillte die Katze offenbar aus der offen stehenden Toilettenschüssel. Und der Hunger zwang die Katze dazu, ihre Besitzerin anzufressen.

So fehlte die Haut des Gesichts einschließlich der darunterliegenden, dünnen Muskelschicht. Das Gesichtsskelett lag somit weitgehend frei. Es wirkte abgenagt. Auch die Augenlider fehlten, sodass die Augäpfel offen hervortraten. In gleicher Weise fehlte auch die Haut am Hals. Erst auf Höhe des Kragens der Bluse war die Hautoberfläche wieder intakt. Auch an den Händen befanden sich Bissspuren.

Die Katze fiel durch ihre Freundlichkeit auf. Sie strich mir um die Beine. Ganz geheuer war es mir nicht, sie zu berühren. Denn ich wusste, was sie die letzten Tage gefressen hatte.

Letztlich kam das bedauernswerte Tier ins Tierheim. „Ob ein neuer Besitzer erfahren wird, unter welchen Umständen sie es gefunden wurde?“ fragte ich mich. Und was die Katze unternommen hat, um selbst nicht zu verhungern?

Stefan Hartl

Jahrgang 1979. 2 Kinder. Arzt seit 2006. Facharzt für Anästhesie, Notfallmedizin, Suchtmedizin, Reisemedizin. Freiberufliche Tätigkeit, u.a. als Leichenschauer, seit 2006. Interessen: Literatur, Reisen.

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